5 Stakeholder einbinden
In dieser Komponente wird erarbeitet, welche Stakeholder relevant sind, wie man welche Stakeholder sinnvoll in den Prozess einbinden sollte und welche effektive Kommunikationsstrategie dabei hilft, Glaubwürdigkeit und Vertrauen zu wahren.
Benötigte Vorlagen:
Stakeholder identifizieren
Jede Datensituation beinhaltet immer eine Reihe an Stakeholdern, die ein Interesse an der Datenverarbeitung haben oder von der Datenverarbeitung in irgendeiner Weise betroffen sind. Dazu können unter anderem gehören:
- Datensubjekte
- Kund:innen
- Datenbesitzer:innen/Datenverwalter:innen/Datenlieferant:innen
- Datenverbraucher:innen/Datenverarbeiter:innen
- Auftraggeber:innen
- Bürger:innen
Der Kontext jedes Mobilitätsdaten-Projekts bringt projektspezifische zusätzliche Stakeholdergruppen mit sich. Einige Stakeholdergruppen können nur indirekt mit den Daten verknüpft sein, wie zum Beispiel Angehörige der Datensubjekte. Daher ist ein wichtiger erster Schritt für die Stakeholder-Einbindung die Identifizierung aller relevanten Stakeholdergruppen. Einige Stakeholdergruppen ergeben sich offensichtlich aus der Beschreibung des Mobilitätsdaten-Projekts. Andere Stakeholdergruppen sind weniger offensichtlich. Um diese Stakeholdergruppen zu identifizieren, bietet es sich an, Werteszenarien zu formulieren.
Werteszenarien
Werteszenarien sind eine Methode aus dem werteorientierten Design (Value-sensitive Design, s.u. [3]), die helfen kann, die (direkten und indirekten) Stakeholder einer Datenverarbeitung und ihre Werte zu identifizieren. Ein Werteszenario ist eine detaillierte beispielhafte Beschreibung einer Interaktion mit der untersuchten Technologie oder Methode, in diesem Fall eine Interaktion mit der Datenverarbeitung. Ein Werteszenario soll dabei einen möglichst vollständigen typischen Ablauf der Datenverarbeitung beschreiben, von der Datensammlung über die Datenverarbeitung bis hin zur Verwertung der Ergebnisse und den Einflüssen auf die involvierten Stakeholder. Dabei geht ein Werteszenario besonders darauf ein, welche Bedürfnisse und Erwartungen alle Stakeholder haben, welche Probleme potenziell auftreten können, sowie wie die Kommunikation zwischen den Stakeholdergruppen gestaltet ist. Da es in dieser Komponente nur darum geht, die Stakeholder und ihre Bedürfnisse zu identifizieren, müssen die Werteszenarien nicht bis ins letzte Detail ausformuliert sein. Sie sollten aber trotzdem genau genug sein, um auch indirekte Stakeholder identifizieren zu können.
Ein Werteszenario kann sich aus den Szenarien aus Komponente 1 ergeben, sowohl als Erweiterung mit Ereignissen, die zu dem Szenario geführt haben oder mit weiteren Entwicklungen, zu denen das Szenario geführt hat. Werteszenarien können aber auch unabhängig von den bereits bestehenden Szenarien verfasst werden. Die folgenden Inspirationsfragen können dabei helfen, weniger offensichtliche Szenarien und ihre Stakeholder zu identifizieren:
- Wer ist durch die Ergebnisse der Datenverarbeitung besonders positiv / negativ beeinflusst?
- Welcher Bevölkerungsteil ist von dieser Datenverarbeitung zuerst beeinflusst?
- Wie entwickelt sich ein Szenario, wenn die Art der Datenverarbeitung breite Anwendung findet?
- Wie kann sich ein Szenario kurz- bzw. langfristig entwickeln?
- Welchen Einfluss kann die Datenverarbeitung auf die Gesellschaft haben?
- Mehrere Werteszenarien sind nötig um die Breite der potentiellen Interaktionen mit der Datenverarbeitung möglichst gut abzudecken.
- Das Szenario aus Komponente 1 kann zu mehreren Werteszenarien erweitert werden. Eine Inspirsationsfrage kann mehrere Werteszenarien anregen.
- Nicht jede Inspirsationsfrage ist für jedes Mobilitätsdaten-Projekt relevant. Vielleicht kann aber eine offene Interpretation der Frage helfen eine Interaktion zu finden, die vorher nicht ersichtlich war.
Nachdem ein Werteszenario beschrieben wurde, werden in diesem Szenario alle Stakeholder und ihre Werte identifiziert. Stakeholder können im Werteszenario als Einzelpersonen auftauchen, auch stellvertretend für eine Gruppe von Stakeholdern, oder als abstrakte Organisation bis hin zur Allgemeinheit als Stakeholder. Stakeholder können im Szenario direkt mit den Daten interagieren oder unabhängig von den Daten auftauchen. Sie können explizit genannt werden oder im Szenario nur angedeutet sein.
Werteszenario 1
Morgan nutzt die E-Scooter von Scoooot mehrmals pro Woche für kurze aber auch für längere Fahrten. In Morgans Stadtteil gibt es nur eine Buslinie und darum sind die E-Scooter bei vielen Nachbarn sehr beliebt um schneller und unabhängig vom Busfahrplan an das gewünschte Zeil zu gelangen.
Beim neuesten Update der Scoooot App sieht Morgan eine personalisierte Meldung, dass jetzt ihre Bewegungsdaten aus vergangenen und zukünftigen Fahrten anonymisiert mit dem ÖPNV-Anbieter der Stadt geteilt werden können. In ihrer Historie kann sie sehen, dass sie in letzter Zeit häufiger ihre Großmutter in der betreuten Wohneinrichtung besucht hat, aber sie erkennt auch, dass sie öfter abends einen Scooter vor der Wohnung ihres neuen Partners Tim abgestellt hat. Morgan stellt sich vor, was eine Datenleck in der beschriebenen Datenweitergabe auslösen könnte: Tim hat eine Vorgeschichte mit einer von Morgans Freundinnen. Daher befürchtet Morgan eine Auseinandersetzung in ihrem Freundeskreis, wenn ihre Beziehung durch die geteilten Daten bekannt wird.
In diesem Szenario gehört Morgan zu den direkten Stakeholder:innen stellvertretend als eine von vielen Kund:innen in der Nachbarschaft. Es werden aber auch der Dienst Scoooot und der ÖPNV-Anbieter erwähnt. Als indirekte Stakeholder gibt es in diesem Szenario Morgans Großmutter und ihren neuen Partner Tim. Allgemeiner, gehören diese beiden indirekten Stakeholder zu der Gruppe der Personen, die mit Scoooot besucht wurden.
Werteszenario 2: Entwicklung des Szenarios auf lange Zeit
Einige Jahre nach der erfolgreichen Datenweitergabe prüft der Senat der Stadt, ob die Finanzierung der Mobility-Hubs durch Steuergelder ausgebaut oder gekürzt werden soll. Der ÖPNV-Anbieter möchte die Mobility-Hubs ausbauen und ist daher bemüht Daten bereitzustellen, die die Notwendigkeit von weiteren Mobility-Hubs rechtfertigen. Der ÖPNV-Anbieter erinnert sich, dass jährlich die Daten von Scoooot gemeldet wurden, und prüft, ob diese Daten zu diesem Zweck genutzt werden können.
In diesem Szenario geht es um die Weiternutzung der Daten zu einem anderen Zweck. Hier wird deutlich, dass der ÖPNV-Anbieter ein Stakeholder mit eigenen Interessen und Werten ist. Zusätzlich tritt hier die Stadt bzw. der Senat selbst als Stakeholder auf, der Anreize bereitstellt, die Daten zu weiteren Zwecken auszuwerten. Dabei hat die Stadt primär nichts mit der Erhebung der Daten oder der ursprünglichen Datenverwertung zu tun und ist daher vor allem ein indirekter Stakeholder. Außerdem wird angedeutet, dass Steuerzahler:innen als indirekte Stakeholder ein Interesse an der Datenweitergabe haben, da die Daten helfen können, Steuergelder möglichst sinnvoll und bedarfsgesteuert einzusetzen.
Die Bedürfnisse der Stakeholder erfahren und berücksichtigen
Vertrauen und eine gute Reputation hängen von der Fähigkeit ab, die Datenverantwortung/-verwaltung zur Zufriedenheit der identifizierten Stakeholder zu gestalten. Dazu gilt es, deren Erwartungen in der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen ihnen und der Organisation, die die Daten gesammelt hat, zu verstehen. Datensubjekte und die breite Öffentlichkeit haben plausiblerweise ein Interesse daran zu erfahren, was mit ihren Daten bei der Verarbeitung geschieht. Medien oder Interessensgruppen können wissen wollen, wie die Verarbeitung vonstattengeht, wie Daten womöglich verändert werden, oder wie die Datenumgebungen mit Blick auf Sicherheit definiert sind.
Hilfreich für die Auseinandersetzung ist das Mapping besagter Stakeholder unter Berücksichtigung ihrer Werte und Interessen. Folgende Leitfragen können hierbei unterstützen:
- Ist deren Interesse an der Datenverarbeitung geschäftlich oder finanziell, politisch, emotional oder anderweitig geprägt?
- Sind sie allgemein unterstützend oder negativ gegenüber den Datenverwalter:innen eingestellt?
- Welchen Wissensstand bezüglich der Daten, Datenverarbeitung und genutzten Technologien haben sie bereits?
Ein erster Eindruck von den Bedürfnissen der Stakeholder kann aus dem Werteszenario erlangt werden. Allerdings ist es oft nötig, die Bedürfnisse genauer und authentischer zu erheben. Bei den Stakeholdergruppen, die direkt in dem Mobilitätsdaten-Projekt involviert sind (z.B. die Datennutzer:innen), ist es einfacher diese Informationen zu erhalten (z.B. durch direkte Befragung). Bei anderen Stakeholdergruppen ist dies mit mehr Aufwand verbunden, da häufig der direkte Zugang fehlt.
Stakeholder beteiligen
Ein proaktives Einbinden hilft, Stakeholder-Bedürfnisse zu erfassen und auf diese zu reagieren, um möglicherweise Datenverarbeitungsverfahren anzupassen oder zu verbessern. Darüber hinaus gilt es das Verhältnis zwischen den Datenverwalter:innen und Stakeholdern anhand folgender Fragen zu spezifizieren:
- Womit werden die Datenverwalter:innen von den Stakeholdern betraut?
- Gibt es möglicherweise Stakeholder, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie der Datennutzung im Projekt widersprechen?
- Kann man mit diesen Stakeholdern in direkten Austausch treten, um ihre Sorgen zu adressieren?
- Falls nicht, was wären die Kosten (in Bezug auf Ruf und Erfolg des Projekts) die mangelnde Unterstützung in Kauf zu nehmen?
Mit diesen Fragen im Blick können mehrere Methoden dabei helfen die verschiedenen Stakeholdergruppen besser zu verstehen. Einige Beispiele sind die folgenden:
- Werteorientierte Partizipation mit Stakeholdern ([2])
- Erkenntnisse aus verwandten Mobilitätsdaten-Projekten oder Forschungsprojekten
- Round Table Gespräche mit Expert:innen
- Einladung zu Umfragen (online oder persönlich)
- Erhebung von Meinungsbildern (z.B. Social Media)
Warum ist die Stakeholderbeteiligung wichtig für Fragen rund um Anonymisierung?
- In erster Linie lässt sich durch funktionale Anonymisierung das Risiko für die Datensubjekte nicht gänzlich ausschließen, wenn nach der Anonymisierung noch sinnvoll nutzbare Daten bleiben sollen.
- Wenn das Risiko nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann, sind negative Konsequenzen nicht vermeidbar. Im Vorhinein mit Stakeholdern ins Gespräch zu kommen, Risiken transparent zu kommunizieren, kann diese Konsequenzen lindern, Vorbereitungen auf solche Fälle ermöglichen und führt daher zu einem nachhaltigen Umgang mit den Daten.
Stakeholder-Tabelle
Alle Informationen, die über die Stakeholder mittels der Wertezenarien und der Einbindung gesammelt werden, werden in der Stakeholder-Tabelle eingetragen. In einer Stakeholder Tabelle werden die Stakeholder aus den Werteszenarien mit ihren Eigenschaften aufgelistet. Eine solche Tabelle hilft dabei, den Überblick über alle Stakeholder und deren Werte zu erhalten sowie deren Einbindung zu priorisieren. Jede Zeile der Stakeholder-Tabelle trägt die folgenden Informationen über eine Stakeholdergruppe zusammen:
- Um welche Stakeholdergruppe handelt es sich und welche Rolle / welche Beziehung zu den Daten lässt sich zuordnen?
- Aus welchen Werteszenarien wurde diese Stakeholdergruppe abgeleitet
- Sind die Stakeholder positiv oder negativ von der Datenverarbeitung betroffen?
- Was sind die Werte dieser Stakeholder mit Bezug auf die Datenverarbeitung?
- Sind die Stakeholder gegenüber der Datenverarbeitung positiv oder negativ eingestellt?
- Was ist der aktuelle Wissensstand der Stakeholder bezüglich des Projekts?
[1] Franzen, D., von Voigt, S. N., Söres, P., Tschorsch, F., & Müller-Birn, C. (2022). "Am I Private and If So, how Many?" - Using Risk Communication Formats for Making Differential Privacy Understandable. In ACM Conference on Computer and Communications Security (CCS). DOI: 10.48550/arXiv.2204.04061.
[2] Sörries, P., Franzen, D., Sperl, M., & Müller-Birn, C. (2023). Foregrounding Values through Public Participation: Eliciting Values of Citizens in the Context of Mobility Data Donation. In MuC '23: Proceedings of Mensch und Computer 2023. DOI: 10.1145/3603555.3608531.
[3] Value Sensitive Design und Werteszenarien
[3a] Friedman, B., Kahn, P. H., Jr., & Borning, A. (2006). Value Sensitive Design and Information Systems. In Human-Computer Interaction and Management Information Systems: Foundations (Vol. 5, Advances in Management Information Systems) (pp. 348-372). M.E. Sharpe. DOI: 10.1007/978-94-007-7844-3_4.
[3b] Friedman, B., et al. (2017). A Survey of Value Sensitive Design Methods. Foundations and Trends® in Human–Computer Interaction, 11(2), 63-125. DOI: 10.1561/1100000015.
[3c] Nathan, L. P., et al. (2007). Value Scenarios: A Technique for Envisioning Systemic Effects of New Technologies. In CHI '07 Extended Abstracts on Human Factors in Computing Systems (pp. 2585-2590). ACM. DOI: 10.1145/1240866.1241046.